Get All You Deserve (Live)

Get All You Deserve (Live) Hot

Nico Steckelberg   29. November 2012  
Get All You Deserve (Live)

Hörspiegel-Meinung

Gesamtwertung 
 
9,0

Wir haben Steven Wilsons Konzerttour zum Album „Grace for Drowning“ wie folgt wahrgenommen:

„Das Bild [auf der Leinwand] hält den Beobachter in seinem Bann, die dröhnenden Klänge wirken beinahe hypnotisch. Alle 5 bis 10 Minuten wechselt die Perspektive des Bildes auf der Leinwand. Manchmal sieht man das vorherige Bild aus anderer Perspektive, manchmal ein gänzlich anderes.

Als eine Aufnahme erscheint, die wie eine Erinnerung eines Blicks aus einem Fenster auf ein kleines Waldstück wirkt, kommt ganz langsam und unbemerkt ein neues Geräusch hinzu: ein rhythmisches, dumpfes Schlagen einer tiefen Trommel. Und auf dem Bild? Hat sich da nicht gerade ein Schatten bewegt? In der Tat: In einer behäbigen Langsamkeit löst sich der Umriss einer mannsgewordenen Schwärze vom Hintergrund. Eine Gestalt. Hat sie uns schon die ganze Zeit beobachtet? Ist sie schon da seit das Bild auf die Leinwand geworfen wird? Eine gespenstische Atmosphäre, einem morbiden japanischen Horrorfilm-Szenario nicht unähnlich. Bedrückende Gefühle, als die Gestalt die Leinwand zur rechten Seite hin verlässt … und panisches Entsetzen, als sie eine gefühlte Ewigkeit voller furchtbarer Vorahnung unvermittelt und langsam, aber dafür um ein vielfaches näher (direkt vor unserem Fenster) erscheint! Dort bleibt sie stehen und starrt uns aus der Schwärze ihres Umrisses heraus an. Ohne Augen. Einfach so.

Das Schlagzeug setzt ein. Ein progressiver Beat, der sich immer wieder unterbricht. Dann der Bass. Keyboards setzen ein, dann die Gitarren und eine Querflöte. Alles passiert langsam und sich entwickelnd. Und schon in diesem ersten Stück zeigt sich, in welche Richtung es bei diesem Konzert gehen wird: Es wird progressiv, jazzig, rockig, groovy und heavy zugleich. Kann man sich nur schwer vorstellen? Willkommen, hier ist Steven Wilson.

Während des Openers verbleibt die Leinwand vor der Band hängend. Wer mag, fokussiert die schwarz-weißen Bilder im Vordergrund, wer mag, schaut durch den Film hindurch auf die Band. Nach dem Opener begrüßt Wilson sein Publikum mit tiefergepitchter und verzerrter Stimme: „Good evening, welcome. I am … a collector.“ Sprach er und vollzieht seine spastisch anmutenden, beinahe unkoordinierten Körperbewegungen während die elektronischen Beats des Songs „Index“ erschallen. Dazu Bilder von Schmetterlingen, defekten Puppen in verfallenen Gärten, braune-beige Sepiafarben, schwarz-weiße, verzerrte und unscharfe Bilder von Masken und Menschen irgendwo zwischen dem Ende des 19. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts. „Index“ ist mit seiner Mischung aus Elektronik, gänsehauterzeugender Thematik und den passenden, geisterhaften Bildern auf der Leinwand vor der Band eines der Highlights des Konzerts.“

Wer während der Tournee nicht im Publikum mit dabei sein konnte oder wer sich noch einmal daran erinnern möchte, für den erscheint nun mit „Get All You Deserve“ die Live-DVD oder –BluRay. Die DVD fängt die Stimmung des Konzerts zwar gut ein, vermittelt jedoch leider nicht das beklemmende Gefühl der ersten 30 Minuten, in denen der Zuschauer hypnotisch vor den Bildern steht und dem gespenstischen Wummern lauscht. Musikalisch ist aber alles dabei.

Das Konzert wurde in Mexico City gefilmt und ist spannend geschnitten. Die Licht- und Videoshow kommt gut zur Geltung. Für den ordentlichen Sound sorgt Steven Wilson persönlich. Als besonderes Schmankerl winkt ein Tourvideo der besonderen Art. Vorbeiziehende Vororte und Städte der ganzen Welt, gefilmt aus dem Tourbus, unterlegt mit einem surrealistischen Industrial-Score. Alle Dortmunder Musikfreunde werden ihre helle Freude haben, den Szene-Plattenladen Idiots Records für ein paar Sekunden im Bild zu sehen.

„Get All You Deserve“ ist ein guter Konzertmitschnitt, mit vielen spannenden und außergewöhnlichen Songs irgendwo zwischen Metal, Art Rock, Jazz und Progressive Rock. Das gefällt nicht jedem so gut wie beispielsweise Wilsons Bands Blackfield oder Porcupine Tree. Mich hat Wilsons Solo-Mucke aber voll auf der richtigen Wellenlänge erwischt, ich finde die Musik (inzwischen) großartig. Aber es brauchte seine Zeit.

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