Macht Hot

Nico Steckelberg   06. März 2016  
Macht

Hörbuch

Autor(en) oder Hrsg.
Erscheinungsjahr
Format
CD
Anzahl Medien
7

Rückentext

Frauen haben die Regierung an sich gerissen, Pillen geben ewige Jugend, religiöse Endzeitsekten schießen wie Pilze aus dem Boden und ein genervter Mann kettet seine Frau kurzerhand im Keller an.

Hörspiegel-Meinung

Story/Inhalt 
 
9,0
Atmosphäre 
 
9,0
Sprecher 
 
10,0
Aufmachung 
 
6,0
Gesamtwertung 
 
8,5

Karen Duve ist immer für eine Überraschung gut. Sie gehört zu den Autorinnen, bei denen man nie weiß, worüber sie wohl als nächstes schreiben wird. Und vor allem: In welchem Genre. Mit „Macht“ legt sie ihren neuen Roman vor, und er ist so kreativ wie düster geworden.

Es gibt verschiedene Einstiegspunkte, den Roman zu beschreiben. Beginnen wir mit der Oberfläche: Deutschland in einer nicht allzu fernen Zukunft. Das Klima ist kaputt, die Menschheit dürfte nicht mehr allzu viele Generationen zu leben haben. Die Frauen haben die Macht ergriffen und bestimmen, wo es politisch und gesellschaftlich lang geht. Zahllose Interessengemeinschaften, Splittergruppen, religiöse Sekten und Tierschützer-Motorradbanden erscheinen auf der politisch-gesellschaftlichen Bühne und verschwinden ebenso schnell wieder wie sie gekommen sind, oder aber sie werden in Windeseile so mächtig, dass sie die politischen Geschicke beeinflussen können. 

Ein paar technische und auch pharmazeutische Errungenschaften machen den Alltag leichter. Vor allem ist es eine Pille, die den Alterungsprozess stoppt und sogar umkehrt. Einziger Nachteil: Sie erhöht das Krebsrisiko erheblich. Dennoch nehmen die Menschen die Chance wahr und suchen sich ihr „Chrono-Alter“ selbst aus, egal wie „bio-alt“ sie sind.

In dieser dem Leser teilweise vertrauten und doch sehr fremden Welt lebt der Protagonist Sebastian. Alleinerziehender Vater von zwei Kindern mit „sicherem“ Job in der Verwaltung. Sein Elternhaus, das nun sein eigenes Zuhause ist, richtet er im Stile seiner Kindheit ein: Jedes Detail soll exakt so aussehen wie in den 70ern. Er ist ökologisch eingestellt und verzichtet oft auf Fleisch, nicht allein um seine CO2-Punkte zu sparen. Warum ist er allein erziehend? Weil seine Frau Christine verschollen ist. Sie war eine ehemalige Ministerin, vielleicht sogar potenzielle Kanzlerinnen-Kandidatin, und dann von einem Tag auf den nächsten nicht mehr da. 

In Wirklichkeit – und das wissen nur Sebastian und Christine – hält er seine Frau im Keller gefangen. Hinter einem Regal mit Einmachgläsern und Dosenfrüchten und einer durch Zahlenschloss verriegelten Stahltür. Hier macht er sich seine Frau mental gefügig. Seine Frau, die ihn nie so wertgeschätzt hat wie er es verdient hätte. Nun muss sie Demut lernen und sich unterordnen. Dies nicht nur im sexuellen Sinne – das auch – aber vor allem will Sebastian, dass sie ihn endlich als das anerkennt, für das er sich fühlt: Ihren Gebieter. In diesen kleinen vier Wänden stellt er das Jahrtausende alte Gleichgewicht zwischen Mann und Frau wieder her, das die Gesellschaft verrückt hat: Er, der Mann, dominiert. Sie, die Frau, befolgt. Doch so sehr er es sich wünscht, merkt er doch immer wieder, dass ihr will zu stark ist um gebrochen zu werden. Es geht um die Macht.

Dies ist die Oberfläche des Romans, wenngleich sie emotional schon sehr tief geht. Tatsächlich verarbeitet Karen Duve in „Macht“ auch den Traum der ewigen Jugend. Durch die Jugendpillen ist es jedem Menschen möglich, wieder in die Vergangenheit einzutauchen. Bei Sebastian merkt man das extrem stark: Er baut seine Kindheit und Jugend um sich herum auf: Die Tapeten und Möbel seines Hauses hat er schon nach diesem Muster „zurückgedreht“. Mit Hilfe der Pillen sieht er aus wie ein Mann im besten Alter. Er lässt seine Frau verschwinden – alle Welt kauft ihm ab, dass sie verschollen ist –  und damit hat er auch seine Hochzeit zurück gedreht. Er trifft seine alte Jugendliebe Elli, die – dank der Pillen – exakt so aussieht wie damals, als er sich nicht getraut hat, sie anzusprechen. Nun ist er bereit: Er hat die Erfahrung, er hat die Möglichkeit, er hat die Jugend. Er bekommt sie. Macht diesmal alles richtig. Und dann geht – Schritt für Schritt – alles schief.

Karen Duve baut diesen perfekten Plan eines Menschen, die Zeit zurückzudrehen, nahezu perfekt auf. Und dann zerstört sie ihn, teils durch  Fehler, die Sebastian begeht, teils durch reinen Zufall. Und die Welt um ihn herum zerfällt. Schneller als es die Klimakatastrophe hinbekäme.

Es gibt noch so viele weitere Facetten an diesem Buch: Sebastian wirft den Fleischessern und Plastiktütenverwendern puren Egoismus vor, dabei ist jede seiner Handlungen von einem unbändigen Egoismus geprägt. Egoismus ist sein zentraler Motivator. Die physische Gewalt im Buch ist der mentalen Grausamkeit um Längen unterlegen. Es gibt eine Szene, in der Sebastian seine Frau auffordert, sich das Leben zu nehmen. Ohne zu verraten, wie es konkret ausgeht: Diese Szene ist markerschütternd. Alleine der Gedanke, dass sie vorher für ihn eine Vorratsration seiner Lieblingskekse backen soll, ist so egoistisch, pervers, zynisch und erschreckend kurz gedacht, dass sie ein Sinnbild für den Charakter dieses Hauptdarstellers ist: Er lebt voller Angst und kann gerade einmal ein paar Schritte in die Zukunft denken. Ein bisschen kindlich, aber genau das ist es ja, was sich Sebastian herbeisehnt: Alles so wie früher. Das wäre schön.

„Macht“ ist ein toller Roman, der an der Oberfläche vielleicht wie eine Mischung aus Gesellschafts-Dystopie, Kampusch-Trauma und „Fifty Shades of Grey“ anmutet. Das ist jedoch nur die Spitze des Eisbergs. Wer sich darauf einlässt, tiefer in Karen Duves psychologischen Kaninchenbau einzudringen, für den entfaltet sich das volle Aroma dieses verstörenden, grausamen Buches.

Die ungekürzte Lesung erscheint bei tacheles! Schauspieler Charly Hübner ist ein toller Hörbuch-Interpret. Seine Stimme und Betonung erinnert mich an eine Mischung aus Dietmar Bär und Jürgen von der Lippe, und die Art seines Vortrags lässt die verschiedenen Facetten des Hauptdarstellers nahezu strahlen. Ich bin mir sicher, dass dies eine der Lesungen ist, die durch den Sprecher noch einen weiteren Pluspunkt gegenüber dem Buch erzielen. 

Eines der 2016er-Hörbücher, die man unbedingt gehört haben sollte.

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